In seinem Buch “Babyjahre” stellt der Kinderarzt Remo Largo fest, dass in Gesellschaften und Kulturen, in denen es üblich ist, dass Säuglinge einen sehr engen Körperkontakt zur Mutter haben, Babys deutlich weniger unspezifisch zu schreien scheinen. Und er gibt weiter zu bedenken, dass, angesichts der Tatsache, dass menschliche Babys während der gesamten Menschheitsgeschichte getragen wurden (Kinderwagen kamen erst etwa im Industriezeitalter auf), wir davon ausgehen müssen, dass es nicht in den Fähigkeiten der meisten Säuglingen verankert ist, ohne diesen ständigen Körperkontakt zu Bezugspersonen auszukommen.
Eltern sollten sich bemühen, das Weinen von Kindern in diesem Alter nicht als übermäßig forderndes Verhalten zu bewerten. Es ist daher auch nicht sinnvoll, die Bedürfniserfüllung aus erzieherischen Gründen hinauszuzögern. Ein Kind im ersten Lebensjahr kann nicht seinen Willen durchsetzen wollen, da es noch keinen eigenen Willen hat, sondern unaufschiebbare Bedürfnisse. Auf Signale des Babys prompt einzugehen und diese angemessen zu beantworten, fördert daher die Autonomieentwicklung von Kindern. Ein Verwöhnen ist im ersten Lebensjahr nicht möglich.1
Deutscher Kinderschutzbund
10 Gründe fürs Tragen
- Getragene Babys sind zufriedenere Babys: Wird ein Kind täglich drei Stunden getragen, weint es im Schnitt um 50 Prozent weniger, vor allem in den Abendstunden2.
- Zufriedenere Babys haben zufriedenere Eltern! Dein Baby möchte bei Dir sein – und wenn ihm das verweigert wird, ist es unglücklich. Es gibt nichts nervenaufreibenderes als ein ständig weinendes Baby. Und es gibt nichts befriedigenderes als die Gewissheit, seinem Baby das zu geben, was es braucht.
- Das Tragen eines Babys gibt Vätern und Großeltern die Möglichkeit, ihr Bonding zum Baby zu intensivieren.
- Mit ein bisschen Know-how kannst Du Dein Kind in der Tragehilfe diskret unterwegs stillen – Du musst Dich dafür noch nicht mal hinsetzen
- Ohne Kinderwagen bist Du mobiler: Du bist nicht auf Aufzüge und barrierefreie Busse angewiesen und Stufen oder eng zugestellte Geschäfte stellen für Dich mit umgebundenen Baby kein Hindernis mehr dar.
- Je mehr Nähe Du zu Deinem Baby hast, desto besser lernst Du die Nuancen seines Wesens kennen. So lernst Du zum Beispiel schneller die Arten zu weinen zu unterscheiden und kannst darauf entsprechend reagieren. Oder Du weißt irgendwann so genau wie sich Dein Baby anfühlt, so dass Du sofort merkst wenn es krank wird oder seine Temperatur steigt noch bevor sich deutlichere Symptome bemerkbar machen.
- Vielen Babys tut die Festigkeit und Sicherheit einer Tragehilfe gut und beruhigen sich schneller, als wenn man sie “nur” auf dem Arm hält.
- Tragend lässt sich ein Baby himmlisch sanft in den Schlaf begleiten: Sei es, indem man auf und ab geht oder mit dem Baby in der Tragehilfe auf einen Sitzball sitzt und sachte hüpft.
- Trägst Du Dein Baby am Bauch oder auf dem Rücken, hast Du beide Hände frei. Zum Beispiel um Dir ein Brot zu machen, Wäsche zusammenzulegen oder mit Deinem Liebsten/Deiner Liebsten Händchen zu halten!
- Last but not least: Tragen ist eine große Freude für alle Beteiligten! Das wunderbarste Wesen auf der Welt so nah bei sich zu haben, ist mit das wunderbarste auf der Welt! Genieß es, so lange Dein Kind noch nicht selbst die Welt erkunden möchte – denn dieser Augenblick kommt vermutlich früher als Dir lieb ist.
Tragen will gelernt sein!
So segensreich die Anschaffung einer Tragehilfe – sei es in Form eines Tragetuchs oder einer Komforttrage – für die ganze Familie sein mag, so kniffelig kann diese Angelegenheit sein. Nicht alle Tragen sind gleich gut und nicht alle Tragen sind für alle Altersstufen geeignet. Wichtig ist primär, dass das Baby in der Trage einen leicht runden Rücken hat, der Nacken gestützt wird und ihm die Anhock-Spreizhaltung ermöglicht wird: Die Knie sollten sich hier etwa auf der Höhe des Bauchnabels befinden, so dass die Bein-Po-Haltung von hinten ungefähr so aussieht wie ein rundes M (ähnlich das einer bekannten Fast-Food-Kette) oder wie die eines Frosches.
Im Internet gibt es jede Menge Tutorial-Videos, die Anleitungen für korrektes Binden geben. Deutlich hilfreicher ist jedoch eine Trageberatung: Hier werden Dir die Bindeweisen von Tragetüchern gezeigt und Du kannst verschiedene Fabrikate testen. Du lernst Tragekleidung kennen und kannst verschiedene Komforttragen ausprobieren. Zertifizierte Trageberaterinnen können Dich auch beraten, wenn es zum Beispiel um das Tragen von frühgeborenen Babys oder Zwillingen geht. Wie wäre es, wenn Ihr Euch von Verwandten zur Geburt eine professionelle Trageberatung schenken lasst?
Eine Übersicht an Beraterinnen in Deiner Nähe findest Du hier und hier. Auch in Familienmagazinen/Webseiten mit lokalen Angeboten wie www.kidsgo.de kannst Du fündig werden.
Empfehlenswerte Tragetücher & Tragesysteme:
Für viele Eltern geht beim Tragen nichts über ein Tragetuch, weil man Tücher individuell binden kann, so dass es sich dem Baby/Kind optimal anpasst. Anderen wiederum bevorzugen so genannte Komfortragen, weil sie sie schneller anzulegen und praktischer finden. Der Markt für beides ist inzwischen riesig.
Tragetücher:
Wenn Du es gerne genau wissen möchtest, kannst Du Dich auf Rabeneltern.de durch den umfangreichen Tragetuch-Test lesen, der viele verschiedene AnbieterInnen vergleicht. Welche Tragetuch-Länge für Euch geeignet ist, kommt auf die Bindung und die Körpergröße an – am besten, Du besprichst Dich mit einer Trageberaterin, aber mit einem Tragetuch der Größe 6 (4,70 m) machst Du nichts verkehrt. Manche Trageeltern kaufen ihre Tücher gerne gebraucht, weil diese dann eingekuschelt und leichter zu binden sind. Aber einige Tragetücher sind auch schon von Anfang an weich und bindefreundlich. Wenn Du gerne einfach loslegen möchtest, ohne Dich stundenlang belesen zu müssen, empfehle ich Dir folgende Tragetücher:
- Amazonas*: Günstige Tragetücher, die absolut in Ordnung sind.
- Didymos*: Die Veteranin auf dem Tragetuchmarkt. Kommt sogar mit einer Anleitung auf DVD.
- Hoppediz*: Ein Klassiker unter den Tragetüchern
- LennyLamb: Top-Tuch für AnfängerInnen – günstig und mit vielfältigen Designs
- Yaro: Vergleichsweise günstig und auch von Anfang an kuschelig weich
Komforttragen:
Wem das Binden eines Tragetuchs jedoch zu fiddelig ist, sein Kind aber trotzdem ganz nah am Herzen tragen möchte, oder eine Ergänzung für sein Tragerepertoire sucht, kann sich mal unter Komforttragen umsehen. Einen ausführlichen Test verschiedener Tragen findest Du bei Nestling, aber hier einige Empfehlungen:
- LennyLamb Wrap Tai: Diese Trage ist eine Mischung aus Tragetuch und Komforttrage – eine so genannte Wrap Conversion. Der Hüft- und die Schultergurte werden gebunden/geknotet und machen somit ein ziemliches Tragetuch-Feeling. In zwei Größen für Babys (auch ab Geburt) und Kleinkinder.
- Bondolino*: Mein persönlicher Favorit – von der Tragetuch-Firma Hoppediz hergestellte Trage, deren Hüftgurt mit einem breiten Klett verschlossen wird, und deren Schultergurte gebunden werden – super schnell, super praktisch, super einfach und schon für Neugeborene geeignet. Und durch die breiten gepolsterten Gurte auch total bequem!
- Fräulein Hübsch: Auch diese Tragen sind eine gute und praktische Alternative zum Tragetuch, und auch in zwei Größen (für Babys ab Geburt und für Kleinkinder) erhältlich. Anders als etwa das LennyLamb Wrap Tai ist die Trage von Fräulein Hübsch eine so genannte Half Buckle: Die Schultergurte werden gebunden, der Hüftgurt jedoch mit einer Schnalle verschlossen. Half Buckle-Tragen lassen sich etwas schneller umlegen – allerdings muss die Weite extra verstellt werden, wenn Menschen mit unterschiedlicher Größe die Trage verwenden.
- MySol: Gute, mitwachsende Trage, die von der Tragetuch-Firma Girasol hergestellt wird, mit verstellbarer Größe, so dass sie ab Geburt bis etwa Größe 80 geeignet ist. MySol-Tragen kommen standardmäßig als Wrap Conversion (also mit Schulter- und Hüftguten zum Binden), man kann jedoch auch einen Schnallen-Gurt nachbestellen, mit dem man die MySol zu einer Half Buckle-Trage umfunktionieren kann.
- Hop Tye*: Von der Tragetuchfirma Hoppediz hergestellte Wrap Conversion (also ohne Schnallen; Hüft- und Schultergurte werden gebunden/geknotet), den man für die gesamte Tragezeit verwenden kann.
- Manduca*: Diese Trage gehört zu den Full Buckle-Tragen – sowohl der Hüft- als auch die Schultergurte werden mit Schnallen geschlossen. Zwar ist in der Manduca ein Neugeborenensitz eingenäht – wenn Du sie für Dein neugeborenes Baby verwenden willst, ist es ratsam, dass Du eine Trageberaterin mal draufschauen lässt. Aber spätestens ab Sitzalter ist sie eine bequeme und praktische Bereicherung für den Babyalltag.
- ErgoBaby*: Genau wie die Manduca ist ErgoBaby eher erst etwa ab Sitzalter geeignet. Allerdings gibt es für ErgoBaby einen seperaten Neugeboreneneinsatz* zu kaufen. Noch besser als die ErgoBaby Original ist ein neueres Modell: ErgoBaby Adapt* – Durch den verstellbaren Steg (der Teil der Trage, auf dem das Baby sitzt) wächst sie ab Geburt mit und braucht auch keinen Neugeboreneneinsatz. Manducas und ErgoBabys kann man bis ins späte Kleinkindalter verwenden.
- Ring Sling*: Genau genommen ist ein Ring Sling natürlich keine Komforttrage, sondern schlicht ein Tragetuch. Allerdings hat es zum Befestigen Ringe, die das Binden und Knoten ersparen. Durch die einseitige Belastung (man trägt dieses Tuch nur auf einer Schulter) ist ein Ring Sling nicht zum dauerhaften Tragen geeignet. Fürs schnelle Umbinden im Haushalt und für kleinere Erledigungen ist es jedoch praktisch, und vor allem im Sommer angenehm, da man nur eine Lage Tragetuch trägt.
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So bitte nicht!
Von Tragehilfen, die keine Anhock-Spreis-Haltung ermöglichen, sei aus mehreren Gründen abgeraten:
Das Baby wird ins Hohlkreuz gezwungen und die Wirbelsäule nicht ausreichend gestützt. Die Beine baumeln ohne Unterstützung herunter, was Druck auf Becken und Steißbein ausübt. Die fehlende Anhock-Spreiz-Haltung kann zu Hüft- und Haltungsschäden führen. Das International Hip Dysplasia Institut (Internationales Institut für Hüftfehlentwicklung)3 sowie der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte4 sprechen sich klar gegen eine solche Trageweise von Babys aus.
Auch für die tragenden Eltern ist diese Form von Tragehilfen auf Dauer weder bequem, noch gesund, da hier das Gewicht des Kindes meist nur auf den Schultern liegt und nicht zusätzlich auf die Hüften verteilt wird und somit schnell zu Schultern- und Rückenschmerzen führt.
Abgesehen von den ergonomisch-physiologischen Einwänden von Tragehilfen wie Babybjörn und co. kann es bei kleinen Babys zu Reizüberflutungen kommen, wird es mit dem Gesicht nach vorne getragen – und das kann zu nächtlichem Schreien führen.
Das menschliche Baby ist ein Tragling5
Bei der Klassifizierung der verschiedenen Jungentypen von Säugetieren unterschied man lange lediglich zwischen Nesthockern und Nestflüchtern. Nesthocker (etwa Katzen, Hunde oder Nagetiere) kommen meist nackt zur Welt, die Augenlider und Gehörgänge sind noch verschlossen, ihr Nest können sie nicht verlassen. Die Muttermilch, die sie bekommen, ist derart nahrhaft, dass sie über viele Stunden reicht – die Mutter kommt bei vielen dieser Spezies nur ein oder zwei Mal am Tag, um sie zu säugen, und wenn sie ihre Jungen wieder alleine lässt, schreien diese nicht nach ihren Eltern. Nestflüchter (wie etwa Huftiere) sind bei ihrer Geburt hingegen fast vollständig entwickelt; sie können sich selbstständig bewegen und folgen ihre Mutter.
In den 60ern begann ein Diskurs unter Biologen und Verhaltensforschern darüber, dass diese Unterscheidung zu kurz greift und zahlreiche Jungentypen außer Acht lässt, wie etwa Affen, Fledermäuse oder Beuteltiere wie Kängurus oder Koalas (wobei nicht alle Beuteltiere tatsächlich einen Beutel haben). Diese Jungen sind nicht so weit entwickelt wie Nestflüchter, bleiben aber auch nicht alleine wie Nestlinge. Sie führen ihre Entwicklung im Beutel oder am Körper der Mutter fort. Die meisten dieser Traglinge, die nicht in einem Beutel reifen, können sich aus eigener Kraft am Fell oder an der Zitze der Mutter festhalten; neugeborene Schimpansen- und Gorillababys sind dafür jedoch zu schwach und müssen in den ersten Wochen festgehalten werden.
Die Merkmale, mit denen ein menschlicher Säugling geboren wird, passen weder zu den Nesthockern, noch zu den Nestflüchtern. Sein Magen hat zunächst die Größe einer Murmel – um zu gedeihen, muss es alle ein bis zwei Stunden – oder häufiger! – an die Brust. Lässt man es alleine, weint und ruft es wie Nestflüchter nach der Mutter, mit dem Unterschied, dass sich unsere Säuglinge nicht alleine fortbewegen können. Nimmt man ein Baby auf, fällt es nicht in die Tragstarre, wie es Nestlingen wie Katzenbabys eigen ist, sondern sie ziehen ihre Beinchen in angehockter und gespreizter Haltung an – die perfekte Haltung für einen Tragling, um auf der Hüfte getragen zu werden.
Danke an Katharina von Tragekind München! Katharina ist vegane Mama, Trageberaterin und hat mir mit vielen Tipps bei diesem Artikel geholfen! 🙂
Linktipps:
Dr. med. Heribert Renz-Polster: Tragen aus kinderärztlicher Sicht | Link
Dr. Karl-Heinz Brisch: Verwöhnte Babys? Deutsche Sorge | Link
Trageportal.de: Informationsplattform für TherapeutInnen, ÄrztInnen und Eltern | Link
Quellen:
1 Deutscher Kinderschutzbund: Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Elternbildungsprogramms Starke Eltern – Starke Kinder®
2 Studie: Increased Carrying Reduces Infant Crying: A Randomized Controlled Trial
3 International Hip Dysplasia Institute: Baby Carriers, Seats, & Other Equipment
4 Ärztezeitung: Babys nicht mit dem Gesicht nach vorne tragen
5 Bernhard Hassenstein: Der biologische Typus des menschlichen Säuglings